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Totenbeschwörung nach dem Buch von Gabriel Heim

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus.

Von 1938 bis 1942 schreibt die Jüdin Marie Winter in Berlin über 170 Briefe an ihre Tochter nach Basel. Als die Tochter sich zur Rettung der Mutter vor den Nazis entschließt, ist es zu spät.  Marie Winter, ihre Tochter Ilse und ihr Sohn Gabriel. Ilses Sprachlosigkeit über ihre Mutter lässt Gabriel schließlich in den Briefen der Großmutter suchen.

Schauspiel: 

Yael Schüler

Regie/Stückentwicklung:

Jan Viethen

Sprachversionen:  

Deutsche

Ilse blieb ihre Mutter betreffend stumm, mit ihrem Tod schließlich endgültig. Übrig bleiben nur zwei Schuhkartons mit den Briefen Maries, in denen sie immer dringlicher vor der Katastrophe warnt, die sie schließlich zermalmt. Das Unausweichliche rückt näher, aber Ilse will die anstrengende Mutter nicht bei sich haben. Wir wissen, wie es ausgehen wird, aber dass es so ausgehen musste, ist schwer zu ertragen. Man möchte Ilse anschreien, sie fragen wieso sie so lange zögerte, was schließlich die Schuldgefühle mit ihr gemacht haben. Aber auch sie kann nicht mehr darauf antworten. „Ich will keine Blaubeertortee“macht erlebbar, wie aus normalen familiären Konflikten nicht wiedergutzumachende Schuld entsteht. Unser Stück stellt anhand der Geschichte einer Familie die Frage, wie die Erfahrung von Gewalt, Verlust und Schuld an folgende Generationen weitergegeben wird.

 

Ilses Sprachlosigkeit nimmt einen zentralen Teil unserer Inszenierung ein. Lebefrau, talentierte Schauspielerin, Freigeist und begnadete Entertainerin, die auf Partys Monologe rezitierte, sagt sie sich früh von ihrer Mutter los. Die gehbehinderte scharfzüngige Witwe Marie erhält durch ihre vielen Briefe Kontur. In Lebensgefahr setzt sie all ihre Hoffnungen in die Tochter, ihr Ein und Alles, deren Lebenswandel sie jedoch nie akzeptieren konnte.


Die Enkelin Gabí ist die Erzählerin und Zeremonienmeisterin, die den beiden toten Frauen Körper und Stimme leiht. Yael Schüler schlüpft in diese Gabí, die in die Körper ihrer Mutter und Großmutter schlüpft. Sie lernt den Sarkasmus Marie kennen, durchlebt die Hysterien und Sehnsüchte der geliebt-gehassten Mutter, versinkt in den Absurditäten der Schweizer Bürokratie und sucht in den extremen der Kriegsgenerationen nach einer Daseinsberechtigung für sich selbst. Sie muss zu ihren Vormüttern werden, muss deren Erfahrungen durch ihren Körper jagen, um endlich ein eigenes Leben jenseits der ererbten Konflikte und Traumata führen zu können. Das Stück ist der Versuch einer Emanzipation von der Sprachlosigkeit nach nicht zu beschreibendem Grauen und einer Totenanrufung von antiker Wucht.

Das Stück basiert auf dem Buch des Journalisten und Autoren Gabriel Heim, der seine Großmutter erst durch die im Nachlass seiner Mutter gefundenen Briefe kennenlernte.
 

Die Inszenierung verdichtet den Text auf seine Schmerzzentren, stürzt sich wie Marie und Ilse auf den Humor als Überlebensstrategie, lässt die drei Frauen in Gabís Körper endlich aufeinandertreffen und kanalisiert diese wahnsinnige Familiengeschichte in ein Theaterritual.

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